Warteobliegenheit bis zur EuGH/BGH-Entscheidung
Aus aktuellem Anlass relevant ist die Frage nach einer aus dem Gesetz oder den vertraglichen Bestimmungen (ARB) resultierenden Warteobliegenheit des Versicherungsnehmers und die an diese zu stellenden Anforderungen. Dabei geht es darum, ob der Versicherungsnehmer vor dem Auslösen einzelner kostenbehafteter Maßnahmen (insbesondere: Klageerhebung) die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung oder den Verlauf eines vermutet vergleichbaren Verfahrens abzuwarten hat. Derzeit besteht eine große Unsicherheit bei Versicherern, Versicherungsnehmern und Prozessbevollmächtigten dahingehend, ob etwa die (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrages noch nicht terminierte) Entscheidung des EuGH zur Rechtssache C-100/21 in diesem Sinne “abzuwarten” ist.
Dieses Thema soll in gebotener Kürze dogmatisch aufbereitet dargestellt werden:
Warteobliegenheit aus § 82 Abs. 1 VVG?
Aus § 82 Abs. 1 VVG ergibt sich unmittelbar, dass „der Versicherungsnehmer […] bei Eintritt des Versicherungsfalles nach Möglichkeit für die Abwendung und Minderung des Schadens zu sorgen [hat]“.
Zentraler Inhalt dieser Regelung ist es, bei Eintritt des Versicherungsfalles die gebotenen und zumutbaren Maßnahmen zur Minderung des Schadens unverzüglich und mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt in der Weise zu ergreifen, wie es eine vernünftig denkende, nicht versicherte Person in der Lage des Versicherungsnehmers tun würde.
Damit scheint es für einige Versicherer naheliegend, eine unmittelbare Warteobliegenheit direkt aus der Vorschrift des § 82 Abs. 1 VVG abzuleiten. Die ganz herrschende Meinung verneint dies allerdings. So hat etwa das OLG München (Urteil v. 25.11.2020, Az.: 15 U 2415/20) klargesellt, dass sich die Abwehr- und Minderungsobliegenheit von Schäden gem. § 82 Abs. 1 VVG nur auf solche tatsächlicher, nicht aber auf solche rechtlicher Art bezieht. Der Versicherungsnehmer ist „lediglich“ aufgefordert, den entstandenen Schaden am Streitgegenstand selbst, aber nicht die Schadenbehebungskosten (hier: Kosten der Rechtsverfolgung) gering zu halten.
Der BGH und die in den ARB vereinbarte Warteobliegenheit
Um dieser Gesetzesauslegung entgegenzutreten, haben die Versicherer in der Vergangenheit verschiedene, nicht unmittelbar aus § 82 Abs. 1 VVG folgende Obliegenheiten (unter anderem eine Warteobliegenheit mit Blick auf nicht präjudizielle Verfahren) konkret in ihren ARB normiert. Eine entsprechende Vereinbarung ist grundsätzlich zulässig, solange an den Versicherungsnehmer keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.
Die vorangesprochene und durchaus sehr differenziert ausgestaltete Regelung wurde vom Bundesgerichtshof mit Urteil vom 14. August 2019, Az.: IV ZR 279/17 kassiert. Der Umfang einer vereinbarten allgemeinen Warteobliegenheit sei intransparent, da der konkrete Handlungsumfang für den Versicherungsnehmer unklar blieb. Darüber hinaus wurde dem Versicherungsnehmer in unzumutbarer Weise abverlangt, sich mit einer Vielzahl an (Kosten-)Rechtsfragen aus dem GKG und RVG auseinanderzusetzen, um der Klausel entsprechend zu handeln.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshof verdeutlicht im Umkehrschluss, dass sich auch aus der (deutlich allgemeiner gehaltenen) allgemeinen Obliegenheitsklausel des § 82 Abs. 1 VVG keine originäre Warteobliegenheit für den Versicherungsnehmer ergeben kann.
Dogmatischer Anknüpfungspunkt: Weisungsrecht des Versicherers, § 82 Abs. 2 VVG
Ungeachtet dessen, ist es dem Versicherer unbenommen, seinen Versicherungsnehmer gem. § 82 Abs. 2 VVG – auch zum Abwarten bestimmter Gerichtsentscheidungen – anzuweisen.
Im Rahmen einer solchen Weisung muss der Versicherungsnehmer in die Lage versetzt werden, selbst einschätzen zu können, ob die Weisung für ihn zumutbar ist. Hierfür ist es notwendig, dass der Versicherer den durch das Abwarten gewonnen Vorteil (etwa ggf. ersparte Verfahrenskosten) aufzeigt und für den verständigen und bemühten Versicherungsnehmer nachvollziehbar aufschlüsselt. Außerdem muss der Versicherer darlegen, weshalb das Nachkommen der Weisung den Versicherungsnehmer in seinen Interessen nicht unbillig benachteiligt.
Kommt die Weisung diesen formalen Anforderungen inhaltlich nach, ist in materieller Hinsicht zu untersuchen, ob sie dem Versicherungsnehmer auch tatsächlich zuzumuten ist. Dies scheint bei noch nicht terminierten oder sich erst in ferner Zukunft abzeichnenden „Leitentscheidungen“ zumindest fraglich. Jedenfalls im Dieselskandal dürfte mit Blick auf den, den Anspruch aufzehrenden Nutzungsersatz von einer Unzumutbarkeit ausgegangen werden, wenn die erwartete Entscheidung nicht in den kommenden Tagen, sondern erst nach Wochen oder Monaten ergehen wird.
Die aktuelle Problematik der ausstehenden Entscheidung des EuGH zur Rs. C-100/21
Nach den Schlussanträgen des Generalanwaltes Rantos vom 2. Juni 2022 steht zu erwarten, dass sich die bisherige Rechtsprechung des BGH zur Frage des Drittschutzes der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV i. V. m. Art. 18 der Richtlinie 2007/46/EG und insbesondere die Annahme eines Acte-Clair ändern wird. Sollte sich der EuGH in dem vom LG Ravensburg (Vorlagebeschl. v. 12.2.2021 – 2 O 393/20) zur Vorabentscheidung vorgelegten Verfahren den Ausführungen des Generalanwaltes anschließen, steht nach der überwiegenden Auffassung der einzelnen OLGe zu erwarten, dass auch der BGH einen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, beziehungsweise der §§ 6, 27 EG-FGV wegen des fahrlässigen Verbauens einer unzulässigen Abschalteinrichtung gegen die Automobil- und/oder Motorenhersteller zusprechen wird.
Zusammenfassend:
Eine Warteobliegenheit des Versicherungsnehmers ergibt sich weder aus dem Gesetz noch aus (wirksamen) Rechtsschutzbedingungen. Möglich wäre allenfalls eine entsprechend auskonkretisierte und zumutbare Weisung nach § 82 Abs. 2 VVG, die der Versicherer direkt an den Versicherungsnehmer zu richten hat. F
Für die anstehende Rechtsprechungsänderung des BGH wegen der EuGH-Rechtssache C-100/21 verbleibt es jedenfalls bis zur Terminierung der europarechtlichen Entscheidung dabei, dass Deckung angesichts der sich wieder als offen zeigenden Rechtslage zu erteilen ist. Ob im Juni/Juli/August/September/Oktober erteilte Weisungen, die noch nicht angesetzte und frühestens für den Spätherbst erwartete Entscheidung abzuwarten, angesichts des steigenden Nutzungsersatzes als zumutbar und damit verbindlich zu werten sind, wird gerichtlich zu klären sein.