LG Gera: Führen von Massenverfahren nicht sittenwidrig eigennützig
Dass sich (vor allem LegalTech-affine) Kanzleien zuweilen dem Vorwurf ausgesetzt sehen, die “massenweise” Anwerbung von mit gleichen Ansprüchen ausgestatteten Mandaten sei – warum auch immer – zu kritisieren, ist bekannt. Meist stammen diese Stimmen aus dem Lager der Gegenseite, die das Geschäftsmodell als solches prozesstaktisch begründet anrüchig darstellen lassen wollen, oder der Rechtsschutzversicherer, die sich der Gefahr potenzierter Gebührenrisiken verwehren möchten.
Das Landgericht Gera durfte sich in dem nun am 17. Februar 2023 entschiedenen Verfahren (6 O 1175/20, BeckRS 2023, 3287) erstmals mit dem dogmatisch konkretisierten Vorbringen eines Versicherers auseinandersetzen, dass in solchen Geschäftsmodelle eine “vorsätzlich sittenwidrige Schädigung” zu sehen sei.
Zum Sachverhalt (zusammengefasst):
Ausgangspunkt war die Mandatierung eines Versicherungsnehmers, der die beklagte Kanzlei (in Anspruch genommen wurden als Gesamtschuldner sowohl die Kanzlei unmittelbar als auch deren einzelne Gesellschafter) zur außergerichtlichen und gerichtlichen Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen im Zusammenhang mit einer Kapitalanlage beauftragt hatte.
Das Vorgehen blieb erfolglos, die Klage wurde ab- die Berufung zurückgewiesen (OLG Braunschweig, Beschluss vom 11. September 2017, Az.: 10 U 82/17, BeckRS 2017, 126170), da die Ansprüche verjährt seien. Die vorherige Anmeldung der Ansprüche zu einer Gütestelle habe die Verjährung nicht gehemmt (so auch BGH, Beschluss vom 28. Januar 2016, Az.: III ZR 88/15).
Der klagende Versicherer hatte die Verfahrenskosten bevorschusst, wobei die Zahlung der Gebühren der gegnerischen Anwälte zum Teil streitig war.
Nach Ansicht des Versicherers sei diese durch das Vorgehen der Kanzlei in vorsätzlich sittenwidriger Weise geschädigt worden, wie sich aus einer Gesamtschau des Verhaltens der Kanzlei ergebe.
Im Kern warf die Klägerin den Beklagten vor, massenhaft Mandate angeworben zu haben, ohne ein ernsthaftes Bemühen zu zeigen, die rechtlichen Interessen der Mandanten tatsächlich zu verfolgen. Die Anwerbung “habe nur der Optimierung der Honoraransprüche” gedient, wie etwa das Einreichen von mehr als 4.500 Güteanträgen bei einer “Ein-Personen-Gütestelle” zeige. Deren objektive Überforderung sei (ungeachtet der verfehlten Rechtsfolge der Verjährungshemmung) voraussehbar gewesen. Die Anträge hätten sich lediglich im Rubrum unterschieden. Eine frühere klageweise Geltendmachung der Ansprüche sei schon wegen der Vielzahl an Mandaten unerlässlich gewesen. Zudem habe die Beklagte die Güteanträge gesammelt erst im Dezember 2011 eingereicht, obgleich einige Vollmachten bereits im Januar 2011 vorlagen.
Auch das nachfolgende Erheben von 4.500 Klagen habe “allein der sittenwidrigen Generierung von Gebühren im Rahmen einer Massenklage gedient”. Der Versicherer führt insoweit an, dass die einzelnen Schadensersatzansprüche auf Schadensersatzes wegen Betruges (§ 823 Abs. 2 BGB iVm § 263 StGB) gestützt seien, sodass für die Beklagte ersichtlich war, dass eine Rückversicherung den Schaden bei erfolgreicher Verurteilung nicht abdecken würde, die Bezugsbeklagte daher Insolvenz beantragen müsste und eine Vollstreckung positiver Urteile keinen nennenswerten wirtschaftlichen Mehrwert bringen könnte. Ebenso hätten die Beklagten jedenfalls billigend in Kauf genommen, dass die Klägerin als Rechtsschutzversicherer in diesem Fall (massenweise obsiegende Urteile aber zahlungsunfähiger Gegner) auf den verauslagten Prozesskosten sitzen bleiben würde.
All diesen Nachteilen hätten die Beklagten ihr eigenes Gewinnstreben (Gebührengenerierung) untergeordnet.
Hilfsweise stützte die Klägerin ihr Vorbringen noch auf Ansprüche aus abgeleitetem Recht (§ 86 VVG) wegen einer Vielzahl von angeblichen Pflichtverletzungen aus dem Anwaltsvertrag, die an dieser Stelle nicht weiter beleuchtet werden sollen.
Entscheidungsgründe
Das Landgericht hat die Klage als vollumfänglich unbegründet abgewiesen.
Hinsichtlich des Vorwurfes der “allein dem Gebührenzweck” gestellten Güteanträge stellt das LG insbesondere auf die zwischen der Klägerin und den Beklagten abgeschlossene Gebührenvereinbarung zur Regulierung dieser Mandatsverhältnisse ab. Aus dieser folge, dass die Beklagten sich dazu verpflichtet hatten, zuvorderst eine gütliche (außergerichtliche) Einigung zu erreichen und dass die gegebenenfalls notwendige Anmeldung der Ansprüche bei der Gütestelle ausdrücklich von beiden Parteien ins Auge gefasst worden ist, um die Möglichkeit einer vorgerichtlichen Streitbeilegung auch nach 2011 noch offen zu halten. Vor diesem Hintergrund sei auch die Anmeldung erst im Dezember nicht zu beanstanden, da auch dieser Zeitpunkt in der Regulierungsvereinbarung benannt worden war, Zitat (Rn. 38f., Beck):
“Dass die Beklagten, statt sogleich Klage zu erheben, zunächst Güteanträge eingereicht haben und dies Ende des Jahres 2011 für sämtliche Mandanten erfolgt ist, unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt die entsprechende Vollmacht erteilt worden ist, stellt sich bei vernünftiger Betrachtung nicht als verwerflich dar.
(…)
Wenn aber das außergerichtliche Vorgehen mit der Klägerin abgestimmt ist, kann es sich nicht als verwerflich darstellen, nicht sogleich Klage gegen die Wirtschaftsprüfer einzureichen.
Auch hatte die Klägerin von der Vielzahl an "eingesammelten” Mandaten Kenntnis. Daneben – und für die hiesige Darstellung von herausgehobener Bedeutung – sei alleine der Umstand, dass die Beklagten eine Vielzahl von Mandanten angeworben haben, alleine dem Umstand geschuldet, dass eben eine solche Vielzahl an Anlegern (vermeintlich) geschädigt worden waren, Zitat (Rn. 40, Beck):
“Dass das „Geschäftsmodell“ der Beklagten dabei auf uniforme Massenabwicklung gerichtet war, begründet für sich genommen nicht den Vorwurf der Sittenwidrigkeit, sondern ist in der heutigen Rechtspraxis ein allgemein akzeptiertes Modell.”
Hinsichtlich des Vorwurfes der uniformen und sachlich unbehelflichen Güteanträge führt das Gericht aus (Rn. 42, Beck):
“Auch der Umstand, dass der von den Beklagten bis auf Rubrum, Anlagegesellschaft, Beteiligungsnummer und Anlagesumme jeweils gleichlautend für sämtliche Mandanten eingereichte Güteantrag mangels hinreichender Individualisierung objektiv nicht geeignet gewesen ist, gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB eine Hemmung der zum Jahresende 2011 ablaufenden 10jährigen kenntnisunabhängigen Verjährungsfrist herbeizuführen, spricht nicht dafür, dass die Beklagten nur im eigenen Gebühreninteresse die Güteanträge abgefasst haben. Es ist bereits fernliegend, dass die Beklagten die Güteanträge von vornherein als unzulänglich erkannt haben. Denn dann hätten sie befürchten müssen, dass für die anschließenden Klageverfahren kein Deckungsschutz gewährt werden würde, was wiederum ihrem – von der Klägerin behauptet alleinigem – Gebühreninteresse zuwider gelaufen wäre. Dass die Güteanträge wortgleich verfasst worden sind, hat wiederum den sachlichen Grund der Vielzahl von betreuten Anlegern mit gleichlaufender Haftungsgrundlage.”
Dem Angriffsmittel, die Beklagten hätten jedenfalls eventualvorsätzlich in Kauf genommen, dass die Klägerin auf sämtlichen verauslagten Prozesskosten sitzen bleiben werde, erteilt das Landgericht ebenfalls eine Absage (Rn. 43):
“Es bietet sich entgegen der Behauptung der Klägerin kein Anhalt, dass die Beklagten ihr Gebühreninteresse über das Interesse der Mandantschaft an einer Durchsetzbarkeit ihrer Forderungen im Falle eines Obsiegens gestellt und zu Lasten der Klägerin billigend in Kauf genommen haben, dass sie die jeweiligen Prozesskosten bei den unterlegenen Gegnern nicht würde durchsetzen können. Es ergeben sich schon keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte, dass die Beklagten aus der ex ante – Sicht bei Klageerhebung davon ausgehen mussten, dass im Fall des Obsiegens die jeweiligen Forderungen nicht würden durchgesetzt werden können.”
Ebenso war den Beklagten die Überlastung der Gütestelle nicht zuzurechnen (Rn. 49, Beck):
“Es ist im Rahmen sinnvoller Prozessführung nicht zu beanstanden, eine Vielzahl von Güteanträgen bei einer Gütestelle einzureichen, die hierdurch ersichtlich mit diesen Güteanträgen überlastet sein wird. Es ist sachgerecht, gleichgelagerte Fälle an einer Gütestelle zu verhandeln. Hierdurch ergeben sich gewöhnlich Synergieeffekte bzw. kann auch eine Gesamtlösung einfacher erreicht werden, als würden die Güteanträge auf verschiedene Gütestellen verteilt werden. Letztlich ist es Sache der Gütestelle, wie sie ihren Arbeitsablauf organisiert, auch wenn eine Vielzahl von Güteanträgen bei ihr eingehen. Es ist von Antragstellerseite keine Rücksicht auf die Größe der Gütestelle geschuldet (vgl. die zeitlich nach der hier zu Grunde liegenden Klageerhebung ergangene Rspr. des Bundesgerichtshofs gemäß Urteil vom 28.10.2015, Az. IV ZR 526/14 – zitiert nach juris).”
Auch im Übrigen sah das Landgericht keine durchgreifende Begründung des Klagevorbringens. Insbesondere hätten die Beklagten keine Pflichten aus dem Anwaltsvertrag verletzt. Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zur (ausbleibenden) Hemmungswirkung eines Gütestellenantrages in dieser Konstellation sei nicht voraussehbar gewesen, jedenfalls war es seinerzeit vertretbar, die Rechtsmissbräuchlichkeit einer Verjährungseinrede anzunehmen (Rn. 57).
Anmerkungen
Die Ausführungen des Landgerichts vermögen vollumfänglich zu überzeugen. Das LG stellt richtigerweise heraus, dass das bundesweite Anwerben “gleichgelagerter” Fälle im Grundsatz nicht verwerflich, sondern als zeitgemäße Erscheinung schlicht zu akzeptieren ist. Aus diesem Grund sind Anwälte auch nicht dazu gehalten, gesteigerte Gedanken über die Zahlungs(un)fähigkeit der Gegenseite und deren Rückgriffsmöglichkeiten etwa auf (Berufs-)Haftpflichtversicherungen anzustellen. Die versuchte Konstruktion solch weitgehender Aufklärungspflichten findet nicht nur keine Stütze im Gesetz, sondern verlangt auch eine faktisch nicht abzuliefernde betriebswirtschaftliche Liquiditätsanalyse der Gegenseite (aus Sicht des Versicherers am besten unentgeltlich oder als Teil des unbedingten Klageauftrages im Rahmen der Verfahrensgebühr bereits inkludiert), die nicht nur die Kenntnisse eines überdurchschnittlichen Verfahrensbevollmächtigten wohl überlaufen.
Ebenso greift der (auch in anderen Verfahren teilweise inflationär vorgetragene) Einwand der fehlenden Individualisierung von Schriftsätzen nicht durch. Selbstverständlich ist Gleiches auch gleich zu behandeln und damit auch gleich zu bearbeiten. Die gegenläufige Argumentation der Klägerin verkennt den Zeitgeist eklatant und wurde seitens des Landgerichts zutreffend verworfen.
Das Urteil weiß den wunschgetriebenen Gedanken des Versicherers nach einem originären Ersatzanspruch gegen den Rechtsanwalt, mit dem im Übrigen keine Sonderverbindung besteht, zu enttäuschen. Dem ist im Ergebnis und in der Ergebnisfindung vollumfänglich beizupflichten. Denn es ist nicht die Massenbearbeitung einer Kanzlei, die es zu kritisieren gilt, sondern die Herangehensweise eines Versicherers, der das Risiko einer Prozessniederlage (welches alleine er vertraglich übernommen hat) im Nachgang auf den bearbeitenden Anwalt abwälzen möchte. Dies galt vorliegend umso mehr, als dass der Versicherer hier nicht nur über alle “sittenwidrigen Umstände” (Anzahl an Mandaten, Vorgehen über die Gütestelle, Deckungszusagen für Klagen) aufgeklärt war, sondern solche (Gütestelleanmeldung) sogar vertraglich vereinbaren ließ.
Auch die weiteren Ausführungen zu nicht ersichtlichen Pflichtverletzungen, deretwegen ebenfalls kein Anspruch aus übergegangenem Recht besteht, sind zutreffend. Auf eine dezidierte Ausarbeitung wird in diesem Beitrag aus Platzgründen abgesehen. Zu Befürworten ist allerdings die Ansicht des Landgerichts, dass es nicht zu dem Aufgabenkreis des Rechtsanwaltes gehört, von all die vielen Möglichkeiten der Prozessführung zur vorsorglichen Sicherheit auszuschöpfen, (Rn. 46, Beck):
“Ein Anwalt ist nicht verpflichtet, alle nur denkbaren prozesstaktischen Maßnahmen zu Gunsten des Mandanten wahrzunehmen.”
Dem ist zuzustimmen. Zwar hat der Anwalt stets den sichersten, kostengünstigsten und schnellsten Weg zur Rechtsdurchsetzung zu wählen. Dieser (An)Satz führt allerdings gerade bei einer faktischen ex-post-Betrachtung in Anwaltsregressverfahren häufig zu einer schlicht unrealistischen Bevormundung und Auflistung unzähliger (angeblich schon immer offensichtlicher) Fehlverhalten. Klar ist: Wenn klare Fehler in der anwaltlichen Mandatsbearbeitung geschehen, hat der Anwalt hierfür einzustehen. Dem scheinbar neuaufkommenden Trend, in jedem Unterliegen eine aussichtslose Rechtsverfolgung zu erblicken (insbesondere nach Zurückweisungsbeschlüssen gem. § 522 ZPO) ist allerdings strikt entgegenzutreten.
Hinweis
Die Klägerin hatte zunächst im Rahmen einer objektiven Klagehäufung 36 gleichartige Ansprüche erfolgt – wie ein richtiges LegalTech. Das Landgericht Gera hatte diese Verfahren allerdings im Beschlusswege abgetrennt.
Ob das Urteil rechtskräftig ist, ist nicht bekannt.