Berücksichtigung der Schlussanträge (EuGH, C-100/21) im Deckungsverfahren
Seit Jahren beschäftigt der Abgasskandal nicht nur Gerichte und Rechtsanwälte, sondern auch Versicherer. Zwischen 2017 und 2019 wurden bundesweit mehr als 206.000 rechtsschutzgedeckte Individualklagen gegen VW eingereicht. Nachdem diese erste Klagewelle weitestgehend abgeflacht ist, beschäftigte sich die zweite Klagewelle im Kern mit der Frage des sog. „Thermofensters“. Den auf diese temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems gestützten Ansprüchen steht der BGH jedenfalls unter Ansatz der in diesen Verfahren beigebrachten Tatsachen kritisch gegenüber (vgl. Nur Az.: VI ZR 433/19). Insbesondere vermochte er in den europarechtlichen Normen keinen Drittschutz zu erkennen. Nach den dazu in Widerspruch stehenden Schlussanträgen des Generalanwalts des EuGH vom 2. Juni 2022 und der Pressemitteilung des Bundesgerichtshofes vom 30. Juni 2022 dürfen Fahrzeugkäufer wieder hoffen. Haben nun auch Versicherungsnehmer Grund zur Freude oder ist mit der negative Leistungsentscheidung des Versicherers bereits abschließend über den Deckungsschutz entschieden?
Das OLG Schleswig und der maßgebliche Zeitpunkt der Bewilligungsreife
In einer jüngst vor dem OLG Schleswig am 21. Juni 2022, Az.: 16 U 53/22 gefällten Entscheidung stand diese Frage im Mittelpunkt. Der Kläger begehrte von der Beklagten Leistungen aus einer Rechtsschutzversicherung in Form von Kostendeckung für die Erhebung einer sogenannten «Diesel-Klage» gegen den Hersteller BMW. Der Versicherer erhob den Einwand mangelnder Erfolgsaussichten und lehnte die Deckung im November 2021 ab. Der Senat zog bei seiner Entscheidung ausschließlich Rechtsprechung von vor November 2021 heran, namentlich den erwähnten Beschluss des BGH vom 19. Januar 2021. Hingegen bezog er die rechtlichen Ausführungen des Generalsanwalts des EuGH in seinen Schlussanträgen zum Verfahren des EuGH C-100/21 vom 2. Juni 2022 nicht ein.
Für die Frage, ob dem Rechtsschutzbegehren des Versicherungsnehmers hinreichende Erfolgsaussichten zu attestieren sind, ist auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife abzustellen - insoweit besteht in der Rechtsprechung Einheit. Das ist frühestens der Tag, an welchem dem Versicherer alle zur Leistungsentscheidung notwendigen Unterlagen vorliegen und spätestens der Tag, an dem der Versicherer den Deckungsschutz ablehnt. Ohne sich mit den die Auffassung des Generalanwaltes stützenden Entscheidungen und Meinungen in Rspr. und Literatur auseinanderzusetzen, gelangte der Senat zu dem Ergebnis, dass die rechtlichen Ausführungen des Generalanwalts des EuGH in seinen Schlussanträgen zum Verfahren des EuGH C-100/21 nicht zu berücksichtigen seien.
Gegenwind aus dem Süden
Eine andere (und überzeugendere) Rechtsauffassung brachte hingegen das Amtsgericht München in einem Anerkenntnisurteil vom 22. Juli 2022, Az.: 132 C 8577/22 zum Ausdruck. Das Amtsgericht hatte sich dabei im Rahmen der Kostenentscheidung mit der Frage zu beschäftigen, inwieweit der Versicherer möglicherweise durch seine Deckungsablehnung Anlass i.S.d. § 93 ZPO zur Klage geboten hatte. Auch die dort gegenständliche Deckungsablehnung ließ die Schlussanträge des Generalanwalts unberücksichtigt - zu Unrecht, wie das Gericht feststellte. Die Schlussanträgen des Generalanwalts stellten keinen neuen „Gesichtspunkt“ dar, sondern verdeutlichten lediglich, wie das ohnehin und von vorneherein geltende europäische Recht richtigerweise zu verstehen sei. Mit anderen Worten: die vom Versicherer vertretene Rechtsauffassung war von Anfang an unrechtmäßig. Die Schlussanträge waren bei der Überprüfung der Leistungsentscheidung zu berücksichtigen, auch wenn sie erst nach Eintritt der Bewilligungsreife gestellt wurden.
Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung des LG Stuttgart vom 18. September 2020, Az.: 3 O 236/20, in der es zur Aussetzung analog § 148 ZPO und zur Vorlage an den EuGH kam. Dieser Entscheidung lag die Erwägung zugrunde, dass das abschließende Wahrscheinlichkeitsurteil zu den Erfolgsaussichten der Klage erst nach Anrufung des Europäischen Gerichtshofs beantwortet werden könne. Dadurch kommt die klare Rechtsauffassung der Kammer zum Ausdruck, nach der auch eine nach Deckungsablehnung ergehende Entscheidung des EuGH bei der Prüfung der hinreichenden Erfolgsaussichten zu berücksichtigen ist.
Fazit
Das OLG Schleswig wendet die Grundsätze zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife auf den ersten Blick konsequent an und lässt sämtliche Urteile, die nach dem Tag der Bewilligungsreife ergehen, außer Betracht. Diese “Konsequenz” erweist sich bei genauerer Betrachtung allerdings als Trugschluss. Das OLG übersieht, dass der Inhalt der Schlussanträge auch vor dem Plädoyer des Generalanwaltes bereits vertreten wurde. Es verkennt weiter, dass eine nach Bewilligungsreife zusprechende Rechtsprechung die “damalige” Erfolgswahrscheinlichkeit schlicht und ergreifend indiziert. Denn eine Rechtsauffassung kann nicht unvertretbar sein, wenn sie durch später ergehende positive Rechtsprechung bestätigt wird (“ohne Erfolgsaussichten kein späterer Erfolg.”). Die Schlussanträge des Generalanwalts des EuGH zum Verfahren des EuGH C-100/21 vom 2. Juni 2022 sind damit indiziell für das Vorliegen der hinreichenden Erfolgsaussicht des Vorgehens des Versicherers im Zeitpunkt der Bewilligungsreife heranzuziehen.