Der Versicherer darf seine Leistungspflicht mit dem Argument, die angestrebte Rechtsverfolgung sei wegen mangelnder Erfolgsaussichten oder Mutwilligkeit nicht „notwendig“ nur versagen, wenn er seinem Versicherungsnehmer vereinbarungsentsprechend mit der Ablehnung anbietet, die Entscheidung durch ein „Gutachterverfahren oder ein anderes Verfahren mit vergleichbaren Garantien für die Unparteilichkeit“ überprüfen zu lassen (vgl. § 128 VVG).
Am häufigsten sehen die einschlägigen Versicherungsbedingungen die Erstellung eines Stichentscheids vor, deren Kosten die Versicherer regelmäßig unabhängig von dessen Ergebnis übernehmen. Auch die Bindungswirkung des Stichentscheides ist – jedenfalls ausweislich der Vertragswerke – unmissverständlich und für beide Seiten zwingend geregelt.
Ziel: der Versicherungsnehmer soll sich schnell und ohne Kostenrisiko klar darüber sein, ob seine Rechtsschutzversicherung nicht doch eintrittspflichtig ist.
Die Praxis sieht häufig anders aus: die Versicherer mängeln formale Nachlässigkeiten an – es läge schon keine gutachterliche Stellungnahme vor. Der „Stichentscheid“ weiche außerdem offensichtlich und erheblich von der tatsächlichen Sach- und/oder Rechtslage ab, das Ergebnis binde den Versicherer daher nicht.
Folge: Die Bindungswirkung und Deckungsverpflichtung muss über den (kostenrisikoträchtigen) Rechtsweg geklärt werden. Und auch in Konstellationen, in denen nach der Übersendung eines für den Versicherungsnehmer positiven Stichentscheides die Deckungszusage erteilt wird, werden die hierfür angefallenen Gebühren unter Anführung derselben Argumente nicht erstattet.
Die gedrehte Extrarunde „Stichentscheid“ führt so häufig zu einem unvergüteten Aufwand, an dessen Ende eine (Deckungs-)Klage notwendig ist.
Die Anforderung der Rechtsprechung an den Stichentscheid
Dabei ist dieser vorskizzierte Mehraufwand nicht zwingend. Wir beobachten, dass die Anforderungen an die Bindungswirkung des Stichentscheides durch die Versicherer häufig überspannt und Kostenrechnungen zu Unrecht nicht beglichen werden. Eine konsequente Inanspruchnahme der Versicherer bleibt häufig auch deshalb aus, weil eine Unsicherheit bezüglich der vorgebrachten Einwände besteht, insbesondere, wenn es „nur“ noch um die Durchsetzung der Gebühren aus dem Stichentscheid geht.
Dabei lassen sich die Anforderungen an einen „bindenden“ Stichentscheid anhand der erfreulich klar und äußerst beständigen Rechtsprechung gut abstrahieren.
Demnach muss sich der Stichentscheid um den formalen Anforderungen zu genügen hinreichend detailliert mit der streitigen Sach- und Rechtslage auseinandersetzen.
Um in materieller Hinsicht Bindungswirkung zu entfalten, darf er nicht offensichtlich erheblich von der Sach- und/oder Rechtslage abweichen.
Eine sehr gute Orientierungshilfe bietet die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17. Januar 1990 (Az.: IV ZR 214/88), die ohne Einschränkungen der heute noch herrschenden Rechtsprechung entspricht.
Hiernach ergeben sich folgende formale Anforderungen:
- Der Stichentscheid muss sich mit dem entscheidungserheblichen Stoff auseinandersetzen, ihn darstellen und angeben, inwieweit für bestrittenes Vorbringen Beweis oder Gegenbeweis angetreten werden kann.
- Rechtsprobleme sind unter Berücksichitigung von Lehre und Rspr. darzustellen, ein sich ggf. ergebenes (Prozess-)risiko ist aufzuzeigen.
- „Streitentscheidend“ ist hierbei nur der Prozessstoff in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht, auf den sich der Versicherer im Rahmen seiner Ablehnung bezieht. Der Stichentscheid muss sich also nicht mit weiteren möglichen Gründen, die für eine Erfolglosigkeit sprechen könnten, beschäftigen, die der Versicherer selbst nicht vorgebracht hat (vgl. hierzu auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 28. Juni 2019, Az.: I-4 U 111/17 mit Verweis auf OLG Hamm, Urteil vom 14. Oktober 2011 Az.: I-20 U 92/10).
- Der Umfang des Stichentscheides misst sich an der Komplexität des Streitstoffes, dem Stand der vorangegangenen Korrespondenz mit dem Rechtsschutzversicherer (und dessen dadurch begründeter Vorkenntnis) und dem Stadium, in dem sich die Interessenwahrnehmung jeweils befindet.
- Eine bestimmte Form (etwa Überschreibung) des Stichentscheides ist nicht
- Auch spätere Ergänzungen (etwa durch formlose Übermittlung von Schriftsätzen) sind zulässig und als ergänzende Stellungnahme zu berücksichtigen.
Zusammengefasst: die Auseinandersetzung mit den Einwänden unter Anführung sämtlicher vorgebrachter Argumente des Versicherers reicht, um von einer „gutachterlichen Stellungnahme“ im Sinne von § 128 VVG auszugehen.
In materieller Hinsicht darf der Stichentscheid nicht offensichtlich und erheblich von der tatsächlichen Sach- und/oder Rechtslage abweichen. Hierbei ist (zwingend) auf eine ex-ante-Betrachtung abzustellen. Der tatsächliche (negative) Ausgang des Rechtsstreits spielt für die Beurteilung keine Rolle.
Da die Abweichung „offensichtlich und erheblich“ sein muss, entfällt die Bindungswirkung aus diesen Gründen nicht bereits dann, wenn nicht sämtliche für oder gegen die Rechtsauffassung des Versicherungsnehmers streitenden Erwägungen mitgeteilt worden sind. Viel mehr ist ausreichend, dass das Ergebnis des Stichentscheides (nämlich die Beurteilung der nach den Maßstäben des § 114 ZPO zu prüfenden Erfolgsaussichten und der Mutwilligkeit) unter keinem tatsächlichen Sach- und/oder Rechtsstandpunkt vertretbar erscheint. Nicht erforderlich ist es, dass der Stichentscheid die herrschende Rechtsprechung oder Literatur wiederspiegelt. Diesbezüglich schreibt das OLG Düsseldorf (Urteil vom 28. Juni 2019, Az.: I-4 U 111/17 mit Verweis auf BGH, Urteil vom 20.04.1994, Az.: IV ZR 209/92):
„Vertritt ein Rechtsanwalt hingegen von mehreren in Rechtsansichten diejenige, die zwar nicht der herrschenden Auffassung entspricht, aber doch nicht ganz abwegig erscheint, dann weicht seine Meinung noch nicht „offenbar“ von der wirklichen Sach- und Rechtsalge ab.“
Wichtig in diesem Zusammenhang: Der den formellen Anforderungen genügende Stichentscheid kehrt die Beweislast dergestalt um, dass der Versicherer im Prozess für die offensichtliche und erhebliche Abweichung des Stichentscheides von der Sach- und Rechtslage (und die damit einhergehende fehlende Bindungswirkung) beweisbelastet ist, vgl. BGH (a. a. O.):
„…so bindet die hierauf in einem Stichentscheid gestützte Bejahung von Erfolgsaussicht die Parteien des Rechtsschutzversicherungsvertrages, solange nicht derjenige, der die Bindungswirkung anzweifelt, beweist, daß die Stellungnahme "offenbar von der wirklichen Rechtslage erheblich abweicht.“
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