Die Schlussanträge des Generalanwaltes beim Europäischen Gerichtshofes Rantos (Rechtssache C-100/21) lassen geschädigte Verbraucherinnen und Verbraucher wieder hoffen (vgl. Prof. Heese „Rom liegt nicht in Karlsruhe“).
In Erwartung des Urteils aus Luxemburg und der Reaktion aus Karlsruhe reagieren die Gerichte vielerorts unterschiedlich. Teils werden Verfahren ausgesetzt, teils wird weiträumig terminiert, oder „wenigstens“ die Revision zugelassen. Vereinzelt werden Klagen weiterhin unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes abgewiesen – obgleich dieser die eigenen Verfahren derzeit zurückstellt. In einigen abweisenden Entscheidungen finden sich – ebenso wie in den vorangegangenen Schriftsätzen der Automobilvertreter und denen der Rechtsschutzversicherer – rechtliche Ausführungen dahingehend, die (unterstellt) drittschützenden europarechtlichen Normen zielten in ihrer Zweckrichtung jedenfalls nicht auf das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht der Käufer ab. Daher fehle es an einem kausalen Schaden. Weiter fokussiert sich die Verteidigungslinie in diesen Verfahren auf den Einwand, den Automobilherstellern sei kein schuldhaftes (fahrlässiges) Verhalten vorzuwerfen, da der Verbau der unzulässigen Abschalteinrichtungen (in der Regel und in concreto: Thermofenster) den Rechtsnormen nicht offenbar zuwiderläuft.
Dem tritt das OLG Celle in zwei Aussetzungsbeschlüssen vom 17. August 2022 (Az.: 7 U 148/22) und vom 23. August 2022 (Az.: 7 U 172/21) entgegen.
So heißt es im ersten Beschluss:
„Nach der mit Pressemitteilung vom 1. Juli 2022 im Verfahren Vla ZR 335/21 verlautbarten Rechtsauffassung des BGH, der sich der Senat anschließt, hat die anstehende Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-100/21 möglicherweise Folgerungen für das deutsche Haftungsrecht, soweit Art. 18 Abs. 1, 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46 dahin auszulegen sein sollten, dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen.
(…)
Damit hat die Entscheidung des EuGH auch für den vorliegenden Rechtsstreit entscheidungserhebliche Bedeutung (…).
Dem steht entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht entgegen, dass der BGH durch Entscheidung mehrerer Senate bislang die Auffassung vertreten hat, die in § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV umgesetzten Vorschriften der vorgenannten Richtlinie bezweckten nicht den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer von Kraftfahrzeugen und dienten damit nicht deren Interessen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 12 ff.), (…).
Denn wie sich aus der oben angegebenen Pressemitteilung des BGH vom 1. Juli 2022 ergibt, hält der BGH an dieser rechtlichen Beurteilung ganz offensichtlich nicht mehr ohne weiteres fest. Dabei dürfte auch auszuschließen sein, dass sich der BGH den von der Beklagten im vorliegenden Rechtsstreit gegen eine Aussetzung angeführten Argumenten — so u.a. der fehlenden Bindungswirkung und vermeintlich nicht vorhandenen Überzeugungskraft der Schlussanträge des Generalanwalts, dem angeblich mangelnden Willen des Verordnungsgebers, der EG-FGV eine Schutzwirkung für den einzelnen Fahrzeugerwerber beimessen zu wollen, der Frage der Korrelation einer auf bloße Fahrlässigkeit gestützten Haftung für Vermögensschäden mit deutschem Gewährleistungs- und Deliktsrecht sowie der Problematik, ob sich ein auf Rückabwicklung gerichteter Schadensersatzanspruch überhaupt auf § 823 Abs. 2 BGB (i.V.m. entsprechenden Schutzgesetzen) stützen lässt — zum Zeitpunkt der o.g. Pressemitteilung nicht gewahr gewesen wäre und diese dementsprechend nicht berücksichtigt hätte.“
In dieser Entscheidung stellt der Senat noch recht allgemein heraus, der Bundesgerichtshof gehe offensichtlich nicht ohne Weiteres von einem fehlenden Schaden oder einem nicht nachzuweisenden Verschulden aus, da er der anstehenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes anderenfalls kein derart hohes Gewicht beigemessen hätte.
In dem nur wenige Tage später ergangenen zweiten Aussetzungsbeschluss setzt sich das OLG dann noch konkreter mit den beiden Tatbestandsmerkmalen auseinander. So schreibt er zum wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrecht:
„Die von der Beklagten vorgebrachten Einwände sprechen nach der Bewertung des Senats nicht gegen eine Aussetzung. Das gilt insbesondere für die Erwägung, eine etwaige Schutzgesetzverletzung könne den hier geltend gemachten Anspruch auf Rückabwicklung nicht tragen, denn dies ist gerade die Rechtsfrage, deren Beantwortung abzuwarten ist. Nach den Schlussanträgen von Generalanwalt Rantos schützen die genannten Vorschriften insbesondere das Interesse eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der VerordnungNr. 715/2007 ausgestattet ist.
Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein derartiges Interesse einen Anspruch auf „Rückabwicklung“ des Fahrzeugkaufvertrages gegen den Fahrzeughersteller begründen könnte.“
Bezüglich des Verschuldens führt der Senat aus:
„Anders als die Beklagte meint, scheidet ihre Haftung nicht deshalb aus, weil ihr ein schuldhaftes (fahrlässiges) Verhalten nicht zur Last gelegt werden könnte.
(…)
Die Haftung wegen Fahrlässigkeit ist nur bei einem unvermeidbaren Rechtsirrtum ausgeschlossen (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 2014 — XI ZR 418/13, juris Rn. 14 allg. zu § 276 BGB; Urteil vom 30. Mai 1972 — VI ZR 6/71, juris Rn. 29; Urteil vom 12. Mai 1992 — VI ZR 257/91, juris Rn. 20 jew. zum Deliktsrecht). Die Verneinung des Schuldvorwurfs setzt voraus, dass die letztlich als unzutreffend erkannte Rechtsmeinung nicht nur vertretbar, sondern auch aufgrund sorgfältiger rechtlicher und tatsächlicher Prüfung gewonnen worden war (vgl. BGH, Urteil vom 21. April 2005 — III ZR 264/04, juris Rn. 19). Auch wenn es sich bei der temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung um einen dem Kraftfahrtbundesamt bekannten Industriestandard gehandelt hatte, betrifft dies nur die Technologie als solche, besagt aber nichts über die Zulässigkeit der konkreten Ausgestaltung im Einzelfall.“
Das Oberlandesgericht arbeitet nachvollziehbar und überzeugend heraus, dass sowohl die Frage des Schadens als auch das Feststellen des Verschuldens im Hauptsacheverfahren einer eingehenden bedarf, sofern der Europäische Gerichtshof den Schlussanträgen des Generalanwaltes folgen sollte.
Für Deckungsverfahren bedeutet dies, dass in Erwartung der Entscheidung des EuGH für beide Fragestellungen wenigstens eine offene Rechtslage besteht, weswegen der Deckungsschutz für solche Verfahren in jedem Fall zu gewähren ist. Denn bei der Prüfung der Erfolgsaussichten reicht es aus, wenn wenigstens ein Oberlandesgericht die Rechtsauffassung des Versicherungsnehmers dergestalt stützt und für vertretbar bzw. untersuchungspflichtig hält, wie das OLG Celle es vorliegend tut.